Polenreise September 2005
Teilnehmer: Meine Mutter, meine Schwester, mein Sohn und ich.


Meine Mutter, Angelika, Anders

Wir sind wieder zurück und es ist kaum zu glauben: wir haben mein polnisches Kindermädchen getroffen!
Es war gut, daß ich mich vorher schon darum bemüht hatte herauszufinden, wo die Kantstraße war. Meine Mutter hätte die Straße nicht wiedergefunden. Es war merkwürdig, auf Straßen, auf denen sie in dieser Stadt als 22-25 Jährige täglich gefahren ist, hat sie nichts wiedererkannt, keine Stelle, an denen sie das Gefühl gehabt hätte: Das habe ich schon einmal gesehen. Es war, als hätte sie keine optische Erinnerung mehr daran, als hätte ihre Erinnerung nur noch Sprachcharakter , so daß sie das eine oder andere zwar erzählen konnte, aber kein Bild mehr davon hatte, das eine Wiedererinnerung ermöglicht hätte. Als wir in die Kantstraße, die heutige Papiezka , einbogen, wartete ich vergebens auf einen Ausruf wie: "Ach, das ist ja ...!" - so weit wir auch fuhren. Und wir fuhren bis zum Ende, dort wo Krauses (die Schwester meiner Mutter) ihre Gärtnerei gehabt haben sollen. Jetzt war am Ende der Straße kein Waldstück mehr, wie es die gelegentlichen Erzählungen nahelegten, sondern ein Fabrikgebäude.



Es war eine trostlose Straße. Betonplatten, die sich gegeneinander verschoben hatten, bildeten den Hauptteil des holprigen Weges. Daneben verlief ein steiniger Sandstreifen für die Fußgänger. Ärmliche Häuser, mal enger zusammen gedrängt, mal durch große Lücken getrennt, Treibhäuser einer Gärtnerei, im Hintergrund große Fabrikgebäude, riesige Schornsteine, Porzellan- und Papierfabriken, chemische Industrie.

Aus den Erzählungen meiner Mutter war deutlich geworden, daß unser Haus, die Fleischerei, an der Ecke zur heutigen Straße Zielna gestanden haben muß. Sie hatte von dort immer ihren Schwiegervater zum wöchentlichen Besuch kommen sehen. In der Nähe der Straßenecke, an der ich zunächst das Haus vermutete, war die Nummer 88, dann folgte die Nummer 86. Das Haus mit der Nummer 87a mußte also auf der anderen Seite gestanden haben. Dort aber stand kein Haus, nur ein paar schlanke Bäume waren da auf einem leeren Platz zu sehen. Nachdem wir uns die Hausnummern der nächstgelegenen Gebäude angesehen hatten, stand fest, daß das Haus abgerissen worden war. Mit dieser Gewißheit - und auch etwas enttäuscht - kehrten wir zur leeren Straßenecke zurück.



Inzwischen hatte meine Schwester dort ein altes Mütterchen angehalten und sie gefragt, ob sie Deutsch spreche. Ein verlegenes Kopfschütteln. Als ich mit meiner Mutter dazukam, fragte meine Mutter sie auf Polnisch, ob das die Kantstraße sei. Sie bestätigte das - und fügte hinzu, daß an dieser Stelle der deutsche Metzger Rahn gewohnt hätte und am Ende der Kantstraße der Gärtner Krause und daß die Familien verwandt gewesen wären. Sie hätte bei Rahns den kleinen Jungen aufgepaßt. Nachdem meine Mutter das übersetzt hatte, muß ich ziemlich verdattert und ungläubig gelächelt haben.

Dann aber war das Staunen auf der anderen Seite, als meine Mutter sagte, daß sie die Frau Rahn sei und der Mann mit den grauen Haaren neben ihr der kleine Junge, den das damals 15-jährige Mädchen beaufsichtigt hatte. Wieder senkte sich ihr Kopf verlegen und lächelnd. Sie bestätigte ihre Familienkenntnis dann noch weiter und zählte die Namen meiner Tanten auf, der Schwestern meines Vaters, die dort im Betrieb mitgeholfen hatten. Schließlich wurde das Gespräch so munter, daß an eine Übersetzung nicht mehr zu denken war. Die Polnischkenntnisse meiner Mutter waren viel besser als ich befürchtet hatte. Nach 60 Jahren fehlte ihr zwar das eine oder andere Wort, aber insgesamt war der Redefluß doch sehr überzeugend.



Es war eine wunderbare Begegnung. Wir ließen uns die Adresse der alten Frau geben und fuhren am nächsten Tag noch einmal hin, um uns mit ihr zum Kaffee zu verabreden. Wir sahen ihr altes Häuschen hinter dichten Sträuchern, notdürftig mit Pappe benagelt, um es vor dem Regen zu schützen. Sie wohnte dort allein mit ihrer kranken Schwester, die sie jetzt pflegen mußte. Ihr Sohn war im Alter von 40 Jahren beim Fischen ertrunken. Als wir sie dann am Nachmittag abholten, hatte sie ihr bestes Kleid angezogen - ganz rührend. Im Café gestand sie uns, daß sie nie im Leben damit gerechnet hätte, noch einmal jemanden von uns wiederzusehen.

Sie wußte auch noch den Namen des Meisters, der bei meiner Mutter gearbeitet hatte, meine Mutter hatte den Namen schon vergessen. Gefragt, ob es leicht oder schwer war, den kleinen Jungen der Frau Rahn zu beaufsichtigen, antwortete sie, daß es ein braves Kind war - klar! Wir erfuhren auch, daß die Fleischerei noch vierzig Jahre lang weitergeführt worden war, daß sie aber vor zwanzig Jahren im Zuge einer Straßenplanung abgerissen worden sei. Die geplante Straße wurde jedoch nie gebaut. Aus ihrer Tasche kramte sie dann noch alte Fotos von sich und ihrer Schwester, die sie als kleine Mädchen und junge, schöne Frauen zeigten. Und sie bat uns, ihr Fotos von meiner Mutter und meinem Vater aus der Leslauer Zeit zu schicken.

Meine Mutter war überrascht von dem, was sie in Polen sah, wie sehr es sich verändert hatte. Sie hatte das Polen in Erinnerung, das sie 1945 verlassen hatte und kaum etwas schien sie noch daran zu erinnern. Das ist ja wie in Deutschland! Der Verkehr, die Straßen, die Kleidung der Leute. Sie sah plötzlich mehr die Ähnlichkeit und nicht mehr so sehr den Unterschied zu ihrer jetzigen Welt, wie bisher. Nichts ist mehr so wie es früher war! Diesen Eindruck, scheint mir, hat sie auch zur Rechtfertigung oder zur Erklärung dafür herangezogen, nichts mehr wiedererkennen zu können. Eine einzige Ausnahme hat es gegeben: in Heinrichsberg, vor ihrem Elternhaus.



Wir kamen noch vor der Mittagszeit dort an, von Schönsee (Kowalewo Pom.) aus. Sie hatte uns erzählt, daß es das letzte Haus rechts an der (einzigen) Straße war. Als wir es erreicht hatten, fuhren wir noch ein paar Meter weiter und stiegen aus. Ein wenig zögerte sie, doch dann sagte sie: Das könnte es sein, mit dem Walnußbaum davor. Wir gingen näher und auf den Hof. Das Haus und der Hof waren schrecklich heruntergekommen, es war das am wenigsten gepflegte Anwesen an der ganzen Straße. Noch drei Äpfelbäume standen dort aber sonst keine Spur mehr von dem wundervollen Garten, den ihre Mutter damals angelegt hatte. Dann die Suche nach dem Teich, den sie mit so vielen Kindheitserinnerungen verband. Er war praktisch verschwunden, nur neben zwei aufgeworfenen Erdhügeln gab es noch eine bis zwei Meter tiefe Mulde, die aber nichts mehr mit dem von Fischen und Teichpflanzen geprägten Ort ihrer Erinnerung zu tun hatte.

Als wir so dastanden und uns die Herrlichkeit anschauten, kam eine Frau aus dem Haus, auf Socken und noch mit einer Eßgabel in der Hand. Meine Mutter stellte sich vor und bat um die Erlaubnis, sich ein wenig umsehen zu können. Sie kam mit der Frau ins Gespräch und erfuhr, daß sie seit 30 Jahren in dem Haus wohnte. Früher habe es einer Familie Sattelmeier gehört, habe sie erfahren. (Was nicht stimmt, Sattelmeiers waren die Nachbarn) Sie selber arbeiteten viel im Wald, das sei einträglicher als die Feldwirtschaft.

Unsere Mutter zeigte uns dann noch, wo die Scheune und wo ein Schuppen stand. Sie wunderte sich, daß die Leute die Eingangstür zur Straße hin und auch die unteren Fenster auf der Giebelseite zugemauert hatten. Es waren die Fenster, durch die ihre Brüder sie zu den Tanzvergnügungen in Schönsee aus dem Haus geschmuggelt hatten. Ansonsten war es unmöglich, andere Gebäude, wie etwa die Schule, wiederzufinden, meine Mutter konnte außer ihrem Elternhaus nichts wiedererkennen. Wir fuhren dann weiter nach Richnau, wo die Familie sonntags zur Kirche ging, aber wir fanden die Kirche nicht mehr. Wieder zurück in Heinrichsberg erreichten wir schließlich durch den Wald den Okiner See, dorthin waren die Kinder und Jugendlichen des Ortes an Feiertagen zum Baden gegangen.